Freitag, 20. Juli 2012

Freude am Menschsein - 1


Mein Herr und mein Gott!
Sei gelobt und gepriesen,
denn große Freude wird dem Menschen,
weil er sich im Sein erkennt
und nicht des Seines beraubt.

Ja, wir dürfen uns freuen,
denn unsere fünf Sinne
versichern uns, dass wir im Sein sind.

Wir haben Augen, die sehen,
Ohren, die hören,
eine Nase, die Gerüche wahrnimmt,
einen Mund, der sich des Geschmackes freut
und eine Haut, die fühlt.

O wahres Licht, Glanz der Gerechtfertigten!
Wenn die Menschen mit Freude und Gefallen
die belaubten Bäume voller Blüten und Früchte betrachten,
wenn ihr Blick über Ufer und Wiesen und Wälder schweift:
wie viel größer muss dann erst die Freude sein,
wenn sie erkennen, dass sie im Sein sind.

Denn wie sehr muss,
wen schon äußere Schönheit erfreut,
die Schönheit
im Innern beglücken.

Und du, Herr, der du mir
schon so viel Freude ins Herz gelegt hast:
lass sie meinen ganzen Leib durchströmen!
Lass mein Angesicht, den Mund, die Augen,
meine Hände, alle meine Glieder freudeerfüllt sein.

(Ramon Llull, Die Kunst sich in Gott zu verlieben, Herder 1985, Textübertragung Erika Lorenz, 70)

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