Montag, 12. März 2012

Ja, keusch – aber nicht sofort, 2 von 3


(2)
Zweitens werden viele davon abgehalten, sich ernsthaft um christliche Keuschheit zu bemühen, weil sie sie von vornherein für unerreichbar halten. Aber wenn man etwas erreichen will, darf man nicht überlegen, ob es möglich oder unmöglich ist. Bei einer Zusatzfrage im Examen kann man überlegen, ob man sie beantworten will oder nicht. Eine obligatorische Frage aber muss man beantworten, so gut man eben kann. Selbst eine unzulängliche Antwort wird dann immer höher bewertet als überhaupt keine. Nicht nur im Examen, auch im Krieg, beim Bergsteigen oder wenn man Schlittschuhlaufen, Schwimmen oder Radfahren lernt, ja sogar, wenn wir mit klammen Fingern einen Kragenknopf schließen möchten, vollbringen wir Dinge, die wir vorher für unmöglich gehalten hätten. Es ist erstaunlich, wozu man fähig ist, wenn man muss.

Wir können allerdings sicher sein, dass vollkommene Keuschheit - wie vollkommene Liebe - durch keine rein menschlichen Anstrengungen zu erreichen ist. Wir müssen Gott um Hilfe bitten. Und wenn wir das getan haben, kann es uns lange Zeit so scheinen, als erhielten wir diese Hilfe nicht oder als erhielten wir weniger, als wir brauchen. Aber das darf uns nicht entmutigen. Es gilt, nach jedem Versagen um Vergebung zu bitten, sich aufzuraffen und es nochmals zu versuchen. Oft will Gott uns zunächst nicht zu der Tugend selbst verhelfen, sondern er will uns diese Kraft geben, nicht aufzugeben.

Denn so wichtig Keuschheit (oder Tapferkeit, Wahrhaftigkeit und jede Tugend) ist, dieses stete Neubeginnen übt uns in einer Seelenhaltung, die noch viel wichtiger ist. Es heilt uns von allen Illusionen, die wir über uns selbst haben, und lehrt uns, auf Gott zu vertrauen. Wir erkennen einerseits, dass wir uns nicht einmal in unseren besten Momenten auf uns selbst verlassen können; andererseits sehen wir, dass wir auch in den schlimmsten Momenten nicht zu verzweifeln brauchen; denn unser Versagen ist vergeben. Verhängnisvoll wäre es nur, uns mit der Unvollkommenheit zufrieden zu geben.

(Komma, Nr.89-90, 2012, 120ff.)

Labels:

0 Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Abonnieren Kommentare zum Post [Atom]

<< Startseite