Sonntag, 15. Januar 2012

Erste Erzählung des Pilgers, 1

Wer ist der Pilger?

Ich, nach der Gnade Gottes ein Christenmensch, meinen Werken nach ein großer Sünder, meiner Berufung nach ein heimatloser Pilger, niedersten Standes, pilgere von Ort zu Ort. Folgendes ist meine Habe: auf dem Rücken trage ich einen Beutel mit trockenem Brot und auf der Brust die Heilige Bibel; das ist alles. In der vierundzwanzigsten Woche nach Pfingsten kam ich in eine Kirche zur Liturgie, um dort zu beten; gelesen wurde aus der Epistel an die Thessalonicher im fünften Kapitel der siebzehnte Vers; der lautet: Betet ohne Unterlass. Dieses Wort prägte sich mir besonders ein, und ich begann darüber nachzudenken, wie man wohl ohne Unterlass beten könne, wenn doch ein jeder Mensch auch andere Dinge verrichten muss, um sein Leben zu erhalten. Ich schlug in der Bibel nach und sah dort mit eignen Augen dasselbe, was ich gehört hatte, und zwar, dass man ohne Unterlass beten, bei allem Gebet und Flehen allezeit im Geiste beten und darin wachen muss in Ausdauer und allerorts mit zum Gebet erhobenen Händen. Ich dachte viel darüber nach, wusste aber nicht, wie das zu deuten sei.

(nach: Emmanuel Jungclaussen, Aufrichtige Erzählungen eines russischen Pilgers, 1974)

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