Welcher Mensch zählt in der Transplantationsmedizin?
- derjenige
vor einer Organentnahme oder
- derjenige
nach einer Organtransplantation?
Suche nach Motiven
Es
ist notwendig, vor allen Dingen für den Betroffenen selbst, d. h. für jeden
Menschen, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Endlich hat einmal jemand
das Wort ergriffen, der weiß wovon er redet, und er ist kein „Theoretiker“, der
seine Argumente verteidigen müsste.
Der
Leserbriefschreiber der Tagespost gibt einen Erfahrungsbericht zum Thema
Organtransplantation. Nicht abgehoben philosophisch oder etwa an die
Nächstenliebe appellierend. Es handelt sich vielmehr um persönliche Erfahrungen
eines Mitgliedes des medizinischen Personals, ohne das Maßnahmen wie
Organentnahmen oder Organtransplantationen nicht möglich wären. Es geht um die
Frage, welchem Menschenbild wir heute nachgehen.
Der Bericht:
"Da ich selbst vier
Jahre in der Intensivtherapie gearbeitet und etliche hirntote Patienten auf die
Explantation (Organentnahme) vorbereitet habe, möchte ich zu diesem Thema eine
Anmerkung machen: Es erscheint mir wichtig, dabei nicht nur die Frage des
Todes-Zeitpunktes zu erörtern, sondern auch praktisch den klinischen Alltag anzusehen.
Mit immer neuen
medizinischen Möglichkeiten wird die Unumkehrbarkeit des Sterbeprozesses und
ein genauer Todeszeitpunktwahrscheinlich immer schwerer festzustellen sein.
Was man aber heute
schon beurteilen kann, ist der
praktische Umgang mi dem einzelnen Menschen im Gesundheitssystem. Da steht
meines Erachtens zumindest auch die Frage nach der Verhältnismäßigkeit im Raum.
Den enormen Aufwendungen im Intensivbereich stand etwa - im gleichen
Krankenhaus - auf der Pflegestation die Tatsache einer Rationierung der
Inkontinenzeinlagen auf zwei Stück pro Tag und Patient gegenüber. Es ist
heikel, zu vergleichen. Aber wenn man die erneuerte Lebensqualität derjenigen
betont, die das Glück haben, dass es ihnen nach einer Transplantation relativ
gut geht, dann darf man doch zumindest auch erinnern an die Lebensqualität
dieser weniger spektakulären Pflegepatienten.
Medizinisches
Personal, besonders im Intensivbereich, steht oft komplexen Grenzfragen
gegenüber, für deren Beurteilung das Gewissen kaum noch Anhaltspunkte hat. Ein
dauerhaftes hilfloses Gewissen erkaltet aber mit der Zeit leicht. Das habe ich
erlebt, an mir selbst und anderen. Zum Beispiel bei zwei Gesprächen mit den Eltern
ertrunkener Kinder (die sowieso aussehen, als würden sie nur schlafen) habe ich
erlebt, wie der - an sich gute - Arzt ohne jedes sichtbare Mitempfinden die
überforderten Eltern quasi fast unter Druck gesetzt hat.
Das ist hoffentlich
nicht der Regelfall. Aber es ist nicht gut, wenn solche Gespräche überhaupt
jemand führt, der ein gewisses Interesse an den Organen hat. Auch das rege
Bemühen jedes der Fachärzte, "sein" Organ/Gewebe möglichst als erstes
zu explantieren, weil natürlich im Laufe der Entnahme die verbliebenen
Lebensfunktionen zusammenbrechen (mit den entsprechenden Folgen für den Zustand
der übrigen Organe) - das ist verständlich. Aber schön anzusehen ist es nicht.
Bis zu dieser Zeit
hatte ich einen Organspendeausweis. Heute habe ich keinen mehr. Unabhängig von
der Frage des Todeszeitpunktes habe ich einfach ein Menschenbild erlebt, das ich
nicht fördern möchte.
Der einzelne Mensch
verschwindet so schnell als austauschbare Materie in einem Massenbetrieb,
gerade heute, wo so oft von Individualität geredet wird. Die von der Natur vorgegebene
Basisstruktur wird immer mehr hinterfragt und genommen und stattdessen die Art
der "Individualität" vorgegeben, wie sie am besten für die
Gesellschaft verwertbar erscheint. Ist der Mensch denn hauptsächlich Produzent,
Konsument, Wähler oder eben auch eine Art "Ersatzteillager"? Ist es
sicher, dass wir so ein Verfügungsrecht über unsere Bestandteile überhaupt
haben? Das ist kein Urteil, sondern als wirkliche Frage gemeint.
Meines Erachtens
könnten manche Theologen doch ein wenig behutsamer sein mit solchen starken,
fast verpflichtenden. Worten wie Nächstenliebe. Nicht aller medizinischer Einsatz
ist auch schon reine Selbstlosigkeit, es gibt immer auch Neugier, Innovationsfreude,
.den Reiz der Grenzüberschreitung, das ist nicht alles gleich Sünde. Aber auf
den Menschen bezogen doch immer eine harte Gratwanderung.
Und was die
Angehörigen eines hirntoten Menschen betrifft, wird der häufigste Grund der
Zustimmung zur Organentnahme schlicht der Wunsch sein, wenigstens etwas von dem
verlorenen Angehörigen im Kreislauf dieses irdischen Lebens festzuhalten. Das
ist so zutiefst verständlich, aber manchmal auch ein Ausdruck der einsamen Hilflosigkeit
angesichts des unfassbaren Todes. Da wäre hier und da mehr Hilfe vonnöten als
der Hinweis "wenigstens damit noch was Gutes tun zu können" (Zitat aus
einem oben erwähnten Angehörigengespräch).
Da es mir nur um
die Sache geht und in keiner Weise darum, eine bestimme Einrichtung oder
Menschen, die mit mir in Zusammenhang gebracht werden, anzuschwärzen, bitte ich
um Verständnis, dass ich meinen Namen hier nicht nennen möchte."
DT
Nr. 62, 24. Mai 2012
Labels: Lebensschutz
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