Donnerstag, 24. Mai 2012

Welcher Mensch zählt in der Transplantationsmedizin?


- derjenige vor einer Organentnahme oder
- derjenige nach einer Organtransplantation?

Suche nach Motiven

Es ist notwendig, vor allen Dingen für den Betroffenen selbst, d. h. für jeden Menschen, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Endlich hat einmal jemand das Wort ergriffen, der weiß wovon er redet, und er ist kein „Theoretiker“, der seine Argumente verteidigen müsste.
Der Leserbriefschreiber der Tagespost gibt einen Erfahrungsbericht zum Thema Organtransplantation. Nicht abgehoben philosophisch oder etwa an die Nächstenliebe appellierend. Es handelt sich vielmehr um persönliche Erfahrungen eines Mitgliedes des medizinischen Personals, ohne das Maßnahmen wie Organentnahmen oder Organtransplantationen nicht möglich wären. Es geht um die Frage, welchem Menschenbild wir heute nachgehen.

Der Bericht:

"Da ich selbst vier Jahre in der Intensivtherapie gearbeitet und etliche hirntote Patienten auf die Explantation (Organentnahme) vorbereitet habe, möchte ich zu diesem Thema eine Anmerkung machen: Es erscheint mir wichtig, dabei nicht nur die Frage des Todes-Zeitpunktes zu erörtern, sondern auch praktisch den klinischen Alltag anzusehen.

Mit immer neuen medizinischen Möglichkeiten wird die Unumkehrbarkeit des Sterbeprozesses und ein genauer Todeszeitpunktwahrscheinlich immer schwerer festzustellen sein.

Was man aber heute schon beurteilen  kann, ist der praktische Umgang mi dem einzelnen Menschen im Gesundheitssystem. Da steht meines Erachtens zumindest auch die Frage nach der Verhältnismäßigkeit im Raum. Den enormen Aufwendungen im Intensivbereich stand etwa - im gleichen Krankenhaus - auf der Pflegestation die Tatsache einer Rationierung der Inkontinenzeinlagen auf zwei Stück pro Tag und Patient gegenüber. Es ist heikel, zu vergleichen. Aber wenn man die erneuerte Lebensqualität derjenigen betont, die das Glück haben, dass es ihnen nach einer Transplantation relativ gut geht, dann darf man doch zumindest auch erinnern an die Lebensqualität dieser weniger spektakulären Pflegepatienten.

Medizinisches Personal, besonders im Intensivbereich, steht oft komplexen Grenzfragen gegenüber, für deren Beurteilung das Gewissen kaum noch Anhaltspunkte hat. Ein dauerhaftes hilfloses Gewissen erkaltet aber mit der Zeit leicht. Das habe ich erlebt, an mir selbst und anderen. Zum Beispiel bei zwei Gesprächen mit den Eltern ertrunkener Kinder (die sowieso aussehen, als würden sie nur schlafen) habe ich erlebt, wie der - an sich gute - Arzt ohne jedes sichtbare Mitempfinden die überforderten Eltern quasi fast unter Druck gesetzt hat.

Das ist hoffentlich nicht der Regelfall. Aber es ist nicht gut, wenn solche Gespräche überhaupt jemand führt, der ein gewisses Interesse an den Organen hat. Auch das rege Bemühen jedes der Fachärzte, "sein" Organ/Gewebe möglichst als erstes zu explantieren, weil natürlich im Laufe der Entnahme die verbliebenen Lebensfunktionen zusammenbrechen (mit den entsprechenden Folgen für den Zustand der übrigen Organe) - das ist verständlich. Aber schön anzusehen ist es nicht.

Bis zu dieser Zeit hatte ich einen Organspendeausweis. Heute habe ich keinen mehr. Unabhängig von der Frage des Todeszeitpunktes habe ich einfach ein Menschenbild erlebt, das ich nicht fördern möchte.

Der einzelne Mensch verschwindet so schnell als austauschbare Materie in einem Massenbetrieb, gerade heute, wo so oft von Individualität geredet wird. Die von der Natur vorgegebene Basisstruktur wird immer mehr hinterfragt und genommen und stattdessen die Art der "Individualität" vorgegeben, wie sie am besten für die Gesellschaft verwertbar erscheint. Ist der Mensch denn hauptsächlich Produzent, Konsument, Wähler oder eben auch eine Art "Ersatzteillager"? Ist es sicher, dass wir so ein Verfügungsrecht über unsere Bestandteile überhaupt haben? Das ist kein Urteil, sondern als wirkliche Frage gemeint.

Meines Erachtens könnten manche Theologen doch ein wenig behutsamer sein mit solchen starken, fast verpflichtenden. Worten wie Nächstenliebe. Nicht aller medizinischer Einsatz ist auch schon reine Selbstlosigkeit, es gibt immer auch Neugier, Innovationsfreude, .den Reiz der Grenzüberschreitung, das ist nicht alles gleich Sünde. Aber auf den Menschen bezogen doch immer eine harte Gratwanderung.

Und was die Angehörigen eines hirntoten Menschen betrifft, wird der häufigste Grund der Zustimmung zur Organentnahme schlicht der Wunsch sein, wenigstens etwas von dem verlorenen Angehörigen im Kreislauf dieses irdischen Lebens festzuhalten. Das ist so zutiefst verständlich, aber manchmal auch ein Ausdruck der einsamen Hilflosigkeit angesichts des unfassbaren Todes. Da wäre hier und da mehr Hilfe vonnöten als der Hinweis "wenigstens damit noch was Gutes tun zu können" (Zitat aus einem oben erwähnten Angehörigengespräch).

Da es mir nur um die Sache geht und in keiner Weise darum, eine bestimme Einrichtung oder Menschen, die mit mir in Zusammenhang gebracht werden, anzuschwärzen, bitte ich um Verständnis, dass ich meinen Namen hier nicht nennen möchte."


DT Nr. 62, 24. Mai 2012

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